In der vergangenen Ausgabe unseres Mitgliedermagazins „aufgeschrieben“ haben wir einen kompakten Überblick über die Ergebnisse der BAVC-Transformationsstudie „Chemie-Arbeitswelten 2030“ gegeben. Im Interview mit Dr. Andreas Ogrinz, Mitautor der Studie und Geschäftsführer Bildung, Innovation und Nachhaltigkeit beim BAVC, klären wir nun, wie die Studie von der Öffentlichkeit aufgenommen wurde und wie die Studienergebnisse in der Praxis umgesetzt werden können.
Die Studie wurde sehr positiv aufgenommen – in erster Linie, weil wir mit den gewonnenen Erkenntnissen eine Leerstelle bedienen konnten: Bis dato konnte niemand für die Chemie fundiert darüber Auskunft geben, wie sich die Transformation auf die Arbeitswelt in unserer Branche auswirkt. Mit „Chemie-Arbeitswelten 2030“ können wir Aussagen über die zu erwartenden Beschäftigungseffekte und Kompetenzanforderungen formulieren – und das für drei Szenarien. Jetzt kommt es darauf an, die Erkenntnisse im Management, in HR, bei den Sozialpartnern auf Branchenebene – und nicht zuletzt in der Politik – umzusetzen! Dieses „Aufnehmen“ der Erkenntnisse ist natürlich noch viel wichtiger als der Applaus für eine gelungene Zahlen-Daten-Fakten-Sammlung.
Etwas überrascht hat mich die IGBCE. Klar wusste ich, dass unser Sozialpartner zu den pragmatischeren Gewerkschaften gehört. Trotzdem habe ich in diesem Fall nicht unbedingt sofort mit ihrer sehr konstruktiven Reaktion gerechnet. Das Verständnis für die Transformation, in der unsere Branche steckt – auch die zu erwartenden unschönen Seiten mit möglichen Arbeitsplatzverlusten und großen Veränderungen für viele Beschäftigte – ist voll da bei der Gewerkschaft!
In den Workshops mit HR-Strateginnen und -Strategen aus Unternehmen und Verbänden unserer Branche ist ein Wort immer wieder gefallen: Attraktivität. Firmen, Arbeitgeber, die Branche als Ganzes müssen in den kommenden Jahren viel mehr als je zuvor dafür tun, Talente zu gewinnen – und zu binden. Im Wettbewerb mit anderen Branchen auf einem für Arbeitgeber immer ungünstigeren Arbeitsmarkt brauchen wir zweierlei: erstens das Eingeständnis, dass die deutsche Chemie eine eher konservative Außenwirkung hat, zweitens den Mut, genau hieran zu arbeiten und neue Zielgruppen anzusprechen. Ohne Fachkräfte mit nachhaltigkeitsbezogenen und IT-Kompetenzen wird die Transformation unserer Branche nicht gelingen. Die Unternehmen haben mehrfach gesagt – und das war kein Scherz –, dass wir eigentlich die „Fridays for Future“-Klientel ins Recruiting-Visier nehmen müssten. Wichtig bei alldem: Das Arbeiten an der Außenwirkung muss mit einem inneren Wandel – zeitgemäßere Kommunikation und Führung – korrespondieren. Was nicht authentisch ist, fliegt früher oder später auf und wird zum Bumerang. Wie „Attraktivität“ verbessert werden kann, dazu machen wir in der Studie eine Reihe von Vorschlägen – den richtigen Methoden-Mix muss aber jedes Unternehmen für sich selbst wählen. Die Ausgangsbedingungen sind hier einfach zu unterschiedlich.
An der Attraktivitätsschraube können und müssen alle Organisationen drehen, die die Chemie auf Landes-, Bundes oder europäischer Ebene vertreten. Ich denke da nicht nur an Arbeitgeberverbände und Gewerkschaft, sondern auch an unseren Schwesterverband VCI, die GDCh und viele mehr. Wir alle tragen im Konzert Verantwortung dafür, dass wir als Branche – und damit als potenzielle Arbeitgeber – attraktiver werden. Oder eben relativ unattraktiv bleiben. Ein Beispiel dafür, wie die Chemie-Arbeitgeberverbände junge Menschen für die Chemie-Industrie begeistern wollen, ist die Kampagne „Elementare Vielfalt“ (ElVi). ElVi ist nicht nur eine Art Marktplatz für Ausbildungsplätze in unserer Branche, sondern auch eine Social-Media-gestützte Kampagne, die sich gezielt an Mädchen und Jungen richtet, die sich für eine duale Ausbildung interessieren.
Anerkannt, gelesen, angefragt: klares Ja! Ob und wie die Ergebnisse konkret in den Unternehmen umgesetzt werden, dafür ist es noch etwas zu früh; die Studie wurde ja erst im Mai veröffentlicht. Die vielen Anfragen, die ich zu der Studie erhalte, und die Gespräche, die ich mit den Unternehmen führe, zeigen aber: Das Bedürfnis nach Orientierung in Sachen Transformation ist groß, neue Erkenntnisse werden von den für Personalthemen Verantwortlichen, die in unseren Verbänden organisiert sind, regelrecht aufgesogen. Ein weiteres Beispiel für das verbreitete Interesse und Orientierungsbedürfnis: Der Kreis der Unternehmensvertreterinnen und -vertreter, die das Projekt „Chemie-Arbeitswelten 2030“ begleitet haben, hat den Wunsch geäußert, in Kontakt zu bleiben und ein Austauschformat zu gründen. Daraus ist beim BAVC der „Stammtisch HR in der Transformation“ entstanden, der sich regelmäßig virtuell zusammenschaltet – für jeweils knackige 40 Minuten.
Die Arbeitgeberverbände können HR auf dreierlei Weise unterstützen: erstens als Berater bei allen arbeitsrechtlichen und anderen arbeitsbezogenen Fragen, die sich mit der Transformation stellen; zweitens als Plattform für den Wissens- und Erfahrungsaustausch der Unternehmen untereinander; und drittens als Informations- und Orientierungsquelle zu Trends in der Arbeitswelt – die Studie „Chemie-Arbeitswelten 2030“ ist hier ein Beispiel, der „Future Skills Report Chemie“, den wir – übrigens gemeinsam mit der IGBCE – entwickelt haben und der zurzeit überarbeitet wird, ein weiteres.
Leider deutet zurzeit vieles darauf hin, dass wir uns im Szenario „Rückschritt“ befinden: hohe Energie- und Rohstoffpreise, mehr und mehr Regulierung, Herausbildung regionaler Blöcke, die sich politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich beinahe schon feindlich gegenüberstehen, sinkende Wettbewerbsfähigkeit der Branche und vieles mehr. Die für den Chemie-Standort verantwortlichen Politikerinnen und Politiker müssen endlich aufwachen und alles dafür tun, dass eine Schlüsselbranche der deutschen Wirtschaft keinen schweren Schaden nimmt – mit allen wirtschaftlichen und sozialen Folgen! Ganz falsch wären aber Abgesänge auf den Standort und überhaupt eine schwarze Rhetorik. Die Studie will das Gegenteil: informieren, orientieren, wachrütteln – und zum Handeln befähigen. Wenn wir jetzt alle Kräfte bündeln in den Unternehmen und als Sozialpartner und es uns gelingt, die politischen Rahmenbedingungen zumindest erträglicher zu gestalten, besteht die realistische Chance, dass wir uns in Richtung des Fortschrittsszenarios bewegen. Die deutsche Chemie kann 2030 eine erfolgreiche Nachhaltigkeitsindustrie sein – dazu braucht sie Mut, politische Unterstützung und ein Quäntchen Glück.
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